Der Widerstand des katholischen Klerus

Obwohl das nationalsozialistische Regime seit seiner Machtergreifung bemüht war, offenen Auseinandersetzungen mit den großen Glaubensgemeinschaften möglichst aus dem Weg zu gehen, und das 1933 mit dem Vatikan geschlossene Konkordat das Verhältnis von Kirche und Staat im beiderseitigen Einvernehmen regeln sollte, waren kritische Stimmen gegen die Regierung Hitlers innerhalb des katholischen Klerus nicht verstummt. Zu ihnen gehörte der Rosenheimer Stadtpfarrer, Dekan Josef Bernrieder, der nach Einschätzung der Polizeibehörden „stets als offener Feind der NSDAP" auftrat.1) „Es vergeht fast kein Sonntag, an welchem er nicht gegen die Maßnahmen der Regierung von der Kanzel herab Stellung nimmt, allerdings in einer versteckten Form, so daß gegen ihn nicht vorgegangen werden kann", meldete die Schutzmannschaft Rosenheim im Juni 1936 Oberbürgermeister Zahler. Hatte Bernrieder zunächst seinen Protest gegen das Regime mit verspäteter Fahnenhis-sung an nationalsozialistischen Staatsfeiertagen am Pfarrhof und an der Kirche und ähnlichen Zeichen passiven Widerstands zu erkennen gegeben, so spitzte sich die gespannte Lage zwischen den Rosenheimer Parteivertretern und dem katholischen Klerus ab Herbst 1935 gefährlich zu. Auftakt der verschärften Auseinandersetzungen war das Verbot der bayerischen Politischen Polizei, Erntedankprozessionen außerhalb der Kirchenräume durchzuführen. Am 6. Oktober 1935 gab Bernrieder in der vollbesetzten Stadtpfarrkirche St. Nikolaus das Verbot im Anschluß an die Predigt bekannt und merkte an, nach jahrhundertelanger Ausübung dieses Brauchs sei es nun „soweit gekommen, daß der Heiland nicht mehr aus der Kirche hinaus [...] und die Fluren segnen dürfe." Gezielte Provokationen gegen Bernrieder waren die Folge. Demonstrativ befestigten Parteigenossen im März 1936 ein „Wahl"-Plakat am Pfarrhof. Als der Stadtpfarrer die Entfernung forderte, wurde ihm dies abgeschlagen, doch war der Anschlag am nächsten Morgen verschwunden. Als ein SS-Mann Dekan Bernrieder deshalb zur Rede stellte und zurechtwies, er solle gefälligst für den Staat eintreten, der ihn bezahle, erwiderte der Seelsorger im Beisein von Straßenpassanten, „[...] die Kirche sei nicht auf den Staat angewiesen, wenn er das zurückgebe, das er ihr gestohlen habe." Die Wut der Rosenheimer Nazis über dieses beherzte Auftreten war groß, doch wagten sie nicht, gegen den beliebten Seelsorger einzuschreiten. Um dennoch dem Klerus von St. Nikolaus einen Denkzettel zu verpassen und auch Bernrieder einzuschüchtern, wandten sie sich gegen den Kaplan und Chorregenten Siegfried Pfaffinger. Der junge Geistliche, Sohn einer Lehrerfamilie aus der Aisingerwies, war nach einem kurzen Einsatz als Kooperator in der Nähe von Freising im Jahr 1931 nach Rosenheim versetzt worden, wo er sich mit der katholischen Jugendarbeit befaßte und Religionsunterricht erteilte. Von Anfang an hatte auch er aus seiner Abneigung gegen das nationalsozialistische Regime keinen Hehl gemacht. Im Oktober 1933 verweigerte er in der Schule den „deutschen Gruß", „weil er erst eine ausdrückliche Entscheidung der oberhirtlichen Stelle abwarte." Immer wieder liefen Beschwerden wegen seiner alles andere als regimekonformen Art des Unterrichts ein, etwa weil er Schüler bestrafte, die Hakenkreuze auf die Schultafel zeichneten, so daß ihn Bernrieder für kurze Zeit von der Erteilung des Religionsunterrichts entbinden mußte. Als Präses der katholischen Jugendverbände der Pfarrgemeinde waren Pfaffinger HJ und BdM ein besonderer Dorn im Auge. In aller Öffentlichkeit zerriß er im Januar 1934 ein Plakat, das am Zaun des Pfarrhofs angeheftet war und zum Eintritt in die Hitlerjugend aufforderte, und erklärte, solche Aufrufe werde er auf dem Privatgrund der Kirche nicht dulden. Nun war die Geduld von Partei und Behörden zu Ende. Am Ostermontag 1935 wollte der Kaplan mit rund 30 Mädchen des katholischen Jugendverbandes „Weiße Rose" eine Fahrt nach Irschenberg unternehmen, wobei einige Teilnehmerinnen grüne Samtmützen als Zeichen der Zugehörigkeit zu ihrer Gruppe trugen. Als sie deshalb am Bahnhof von einer Frau und einem anderen Mädchen angesprochen wurden, drohte der erboste Seelsorger den „Rotzfratzen [...] vom BdM [...] ein paar Schellen" an, wurde angezeigt und vom Amtsgericht Rosenheim wegen verbotenen Uniformtragens zu einer Geldstrafe von 75 RM, ersatzweise 15 Tagen Haft, verurteilt. Pfaffinger ließ sich jedoch nicht einschüchtern. Schon zwei Tage nach dem Urteil hielt er am 5. Januar 1936 eine Monatsversammlung des katholischen Hausangestellten- und Dienstmädchenvereins „Zita" ab, obwohl sie Stadtkommissär Habruner „wegen Nichteinhaltens der Anmeldepflicht" ausdrücklich verboten hatte. Das eingeleitete Strafverfahren wurde jedoch von der Staatsanwaltschaft Traunstein eingestellt. Für die Rosenheimer Parteiführer war es nun klar, daß schnellstens Maßnahmen gegen die renitenten Geistlichen ergriffen werden müßten, wollte man nicht das Gesicht verlieren. Den willkommenen Vorwand hierzu bildete die Meldung des Jungvolk-Sturmführers Wilhelm Klein, am Sonntag dem 17. Mai 1936 sei das Jugendtreffen äußerst schlecht besucht gewesen, „offensichtlich, weil die Schüler von dritter Seite in besonderem Maße zur Erfüllung ihrer Sonntagspflichten angehalten worden waren." Nachforschungen ergaben, daß Pfaffinger vier Schülern der 6. Klasse der Hans-Schemm-Schule „Tatzen" erteilt hatte, weil sie statt des Schulgottesdienstes am HJ-Treffen teilgenommen hatten. Bei einer am 25. Mai 1936 vorgenommenen Untersuchung stellte der Leiter des „Amts für Volksgesundheit", Dr. Ernst Klein, bei zweien der Schüler Striemen und Schwellungen an den Händen fest, die auf die Züchtigung zurückgeführt wurden. Das war das Startsignal zu einer wohl schon von langer Hand geplanten Aktion gegen den Kaplan. Polizei-Hauptwachtmeister Sperl erstattete Oberbürgermeister Zahler zu den Vorgängen folgenden Bericht:
„Am Freitag, 29. Mai 1936 zwischen 20 und 22 Uhr befanden sich Polizeihauptwachtmeister Nikolaus Haltmayer und Unterfertigter auf Dienstgang. Einige Minuten vor 22 Uhr bemerkten wir auf dem Ludwigsplatze und den einmündenden Seitenstraßen zahlreiche Volksgenossen, die sich einzeln wie gruppenweise bewegten. Sämtliche waren in Zivilkleidung und ohne Abzeichen. Es hatte den Anschein, ab würden sich die Leute zu einem bestimmten Zweck sammeln. Der Zweck der Ansammlung konnte nicht ermittelt werden; darüber befragte Straßenpassanten erklärten, nichts zu wissen, was los sei. Wir begaben uns darauf in die Polizeiwache am Ludwigsplatz und veranlaßten unsere Straßendienstablösung[...], sich vorsichtshalber auf dem Ludwigsplatze aufzuhalten. Kurz nach 22 Uhr meldete Krim.-Hauptwachtmeister Johann Baumann, daß die Leute sich vor dem Kath. Pfarrhofe [...] ansammelten. Da hiernach damit zu rechnen war, daß eine Demonstration gegen die Geistlichkeit beabsichtigt ist, verständigte ich sofort fernmündlich den Leiter der Schutz-mannschaft [...], der mich beauftragte, bis zu seinem Eintreffen auf der Polizeiwache den Herrn Oberbürgermeister zu benachrichtigen. Letzterer war, wie sich dann herausstellte, dienstlich ortsabwesend. Inzwischen wurde vom [...] Pfarrhof her Geschrei und Gejohle vernommen. Ich begab mich beschleunigt mit den zur Verfügung stehenden Polizeibeamten dorthin. Vor dem Pfarrhof hatten sich etwa 200 Personen angesammelt, die fortwährend riefen: ,Pfaffinger raus! Nach Dachau mit ihm! Wenn Pfaffinger nicht verhaftet wird, dann holen wir ihn selber!' u.s.w. Die vor dem Pfarrhofe befindliche elektrische Straßenlampe brannte nicht mehr, sie soll dem Vernehmen nach heruntergeschossen worden sein. Bei unserem Eintreffen waren auch 9 Fenster im Pfarrhofe mittels Steinen eingeworfen. Im Pfarrhof brannte kein Licht, die Eingangstüre war verschlossen. Einige der Demonstranten waren an den zur Straßenfront gelegenen vergitterten Fenstern emporgeklettert. Die Menschenmenge war inzwischen auf etwa 300 Personen angewachsen. Ihre Beruhigung schien aussichtslos. Sie forderte immer wieder die Verhaftung des Pfaffinger. Die Lage wurde immer bedrohlicher. Ich forderte deshalb den unter den Demonstranten befindlichen Krankenkassensekretär Ludwig Kuchler, einen alten Kämpfer für die Bewegung und deshalb den meisten Anwesenden bekannt, zur Einwirkung auf die Menge auf, daß beim Abtransport des Pfaffinger weitere Ausschreitungen unterlassen werden. Kuchler kam meiner Aufforderung sofort nach, in einer kurzen Ansprache gab er den Leuten zu verstehen, daß Pfaffinger in Schutzhaft genommen werde, auf dem Wege zur Polizeiwache dürfe ihm kein Haar gekrümmt werden, wer Pfaffinger angreife, sei ein Feigling. Wir klopften darauf an die Türe zum Pfarrhofe, worauf der Stadtpfarrer Dekan Josef Bernrieder öffnete. Kaplan Pfaffinger erklärte sich sofort bereit, mit auf die Polizeiwache zu gehen und ersuchte, für seinen persönlichen Schutz Sorge zu tragen. Er wurde darauf [...] zur Polizeiwache verbracht. Vom Pfarrhof bis zur Wache bildete die immer mehr anschwellende Menge eine Gasse. Während des Weges zur Wache wurde nicht nur Pfaffinger sondern auch die ihn begleitenden Polizeibeamten von der Menge heraus angespieen. Auf die Täter konnten wir naturgemäß nicht achten. Fortwährend erschollen Rufe: ,Nach Dachau mit dem Schweinehund! Aufgehängt gehört er!' usw. Geschlagen wurde Pfaffinger nicht. Während des Aufenthalts von Pfaffinger auf der Polizeiwache sammelten sich die Leute vor dieser an und riefen, daß Pfaffinger in das Gefängnis verbracht werden müsse. Polizei-Inspektor Schilcher[...] verständigte den Herrn Stadtkommissär Bezirksoberamtmann Habruner von der Sachlage und ersuchte ihn um weitere Weisungen. Der Herr Stadtkommissär ordnete hierauf die Einlieferung des Pfaffinger in das Amtsgerichtsgefängnis Rosenheim an. Inzwischen hielt der städtische Offiziant SA-Sturmführer Josef Decker [...] eine beruhigende Ansprache an die Menge und forderte die Leute auf, sich zu zerstreuen; er garantiere, daß Pfaffinger in das Gefängnis komme. Dem Pfaffinger wurde [...] die Schutzhaftnahme zu seiner persönlichen Sicherheit eröffnet und 22.50 Uhr mittels Kraftwagen in das Gefängnis verbracht. Die Menschenmenge verlief sich dann allmählich. Am 30. Mai 1936 vormittags 9.20 Uhr wurde Pfaffinger auf Anordnung des Herrn Stadtkommissärs aus der Schutzhaft entlassen. Er begab sich vom Gefängnis weg mittels Kraftwagen nach Irschenberg."
Obwohl Oberbürgermeister Zahler und die Rosenheimer Parteiführer bemüht waren, den vorgesetzten Behörden vorzugaukeln, es habe sich bei der Demonstration um einen „spontanen", harmlosen Ausbruch des Volkszorns gehandelt, nahmen die Justizbehörden die Ermittlungen auf. Energisch rügte die Münchner Staatsanwaltschaft den Rosenheimer Oberbürgermeister, der den berichtenden Polizeibeamten zu sich zitiert und gezwungen hatte, seine Beobachtung, von Angehörigen der SA, SS und HJ sei die Aktion ausgegangen, aus seinem Rapport zu streichen und sie durch das Wort „Volksgenossen" zu ersetzen. Die Staatsanwaltschaft Traun-stein übertrug daraufhin die Ermittlungen der Gendarmerie-Hauptstation Rosenheim, da die Schutzmannschaft „in der Sache nicht ganz unbefangen" erschien, und verwies auf die Anweisung des Reichsministeriums für Justiz, die „Ermittlungen mit Nachdruck und Beschleunigung vorzunehmen." Da nach der Befragung mehrerer Zeugen, die übereinstimmend aussagten, sie hätten den Eindruck gehabt, es habe sich um eine organisierte Aktion gehandelt, die mit Wissen und Zustimmung der örtlichen Parteispitze und Behörden durchgeführt worden sei, gaben die Parteifunktionäre ihr anfängliches Leugnen auf. SA-Sturmführer Josef Dekker übernahm die Verantwortung für die Vorgänge, an denen, wie sich herausstellte, auch SS- und SA-Leute aus Kolbermoor, Großkarolinenfeld und Wasserburg teilgenommen hatten. Gegen zehn Personen wurde daraufhin Anzeige wegen Landfriedensbruchs erstattet, doch wurden, um weiteres Aufsehen zu vermeiden, die Ermittlungen zugleich mit einer Klage gegen Pfaffinger wegen Körperverletzung am 10. März 1937 durch einen Erlaß Hitlers niedergeschlagen. Wie die vorgesetzten Dienststellen befürchtet hatten, bewirkte das eigenmächtige Vorgehen der Rosenheimer Nazis gegen die katholischen Geistlichen eher das Gegenteil des gewünschten Effekts. Der Großteil der Bevölkerung mißbillige die Demonstration, die in weitem Umkreis bekannt geworden sei, berichtete im August 1936 die Gendarmerie. Besonders die Landbevölkerung befinde sich in großer Unruhe. Auch von Parteigenossen kam Kritik, wie Ortsgruppenleiter Gmelch bei einer Blockzellenversammlung zu spüren bekam, doch wies er sie zurecht: „Meine Herren! Was von oben befohlen wird, wird durchgeführt!" Sowohl die Drohung des Kreisleiters Heliel, statt tausend Demonstranten würden das nächste Mal zwei- bis dreitausend aufmarschieren, was Bernrieder prompt bei seiner nächsten Sonntagspredigt bekanntgab, noch ein Flugblatt, das der Bevölkerung „die Wahrheit im Fall Pfaffinger"2) vermitteln sollte, trugen zur Beruhigung der gespannten Lage bei. Mußten die Rosenheimer Parteiaktivisten damit auch einsehen, daß mit derartigen Übergriffen den beherzten Seelsorgern nicht beizukommen war, so war doch eine weitere Tätigkeit Pfaffingers in der Stadt unmöglich geworden. Pfingsten 1937 verließ er die Pfarrei St. Nikolaus. Auf Erinnerungsbildchen, die er an die Mitglieder seiner Jugendgruppen verteilte, stand der Satz aus den Römerbriefen: „Nichts kann mich trennen von der Liebe Christi, weder Trübsal noch Angst, weder Verfolgung noch Schwert."
Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs leitete die Staatsanwaltschaft erneut Ermittlungen gegen die Rädelsführer der Demonstration ein, doch war mit Josef Decker der Mann, der stellvertretend für seine Parteigenossen die Verantwortung übernommen hatte, bereits verstorben, ein weiterer Hauptbeteiligter wegen anderer Delikte in Haft. Pfaffinger und Bernrieder teilten den Behörden mit, daß sie an weiteren Untersuchungen oder Strafverfahren nicht interessiert seien.

Wolfgang Stäbler

1) Der Aufsatz folgt, wenn nicht anders vermerkt, den Polizeiberichten und Zeugenaussagen in StAM, Staatsanwaltschaften 16046.
2) StARo, Altregistratur III A 1 - 28.