Die Kaufmannsfamilie Fichtmann

Der Schneider Moses Fichtmann stammte aus Galizien, einem heute polnischen Landstrich im Osten des österreichisch - ungarischen Reichs. Im Jahr 1896 zog er nach Rosenheim, heiratete im Jahr 1900 die ebenfalls in Galizien geborene Taube (Antonie) Delfin und begann, sich vom mittellosen Verkäufer zum Besitzer eines eigenen Konfektionsgeschäfts emporzuarbeiten.1)
Von einem Kriegseinsatz im österreichisch - ungarischen Heer 1917/ 18 zurückgekehrt, trat er in die gegenrevolutionäre Einwohnerwehr ein, tendierte aber nach Einschätzung der Polizei mehr zu den Sozialdemokraten. In den Jahren der Weimarer Republik war er Mitglied der Feuerwehr, tat sich als großzügiger Förderer der Knabenschule hervor und stieg zum angesehenen Geschäftsmann auf. 1929 beantragte er für sich, seine Frau und drei seiner sechs in Rosenheim geborenen Kinder - drei Söhne waren bereits nach Amerika ausgewandert - die bayerische Staatsbürgerschaft, die ihm nach Befürwortung des Stadtrats am 8. März 1930 gegen Zahlung von 400 RM gewährt wurde. Im Herbst 1931 erwarb er das Haus Max-Josefs-Platz 17 und richtete sich hier seinen Hauptbetrieb ein, behielt aber daneben seine früheren Geschäftsräume in der Riederstraße bei. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wendete sich auch sein Schicksal. Auf Betreiben des neuzusammengesetzten Stadtrats widerrief die Regierung von Oberbayern am 16. März 1934 die Einbürgerung der Familie. Da mit dem Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft die polnische erloschen war, waren die Fichtmanns nun staatenlos. Als nach behördlicher Einschätzung „jüdisch-rassereinste" Familie Rosenheims bildeten sie in der Folgezeit die bevorzugte Zielscheibe antisemitischer Attacken lokaler Aktivisten.
Ab Spätherbst 1937 standen fast ununterbrochen eifrige Partei- und Volksgenossen vor Fichtmanns Geschäft am Max-Josefs-Platz, die potentielle Kunden vom Kauf abhielten und die Namen derer, die ungeachtet ihrer Drohungen trotzdem „beim Juden" kauften, notierten. Sie wurden als „Judenfreunde" in einem Schaukasten, der an einem gegenüberliegenden Haus angebracht war, öffentlich ausgehängt. Auf mehrfache Beschwerden und Eingaben bei Polizei und städtischen Behörden erntete Fichtmann außer Desinteresse und Hohn nur die Antwort, er wisse wohl selbst, wie es um die Juden in Deutschland stehe. Durch die ständigen Schikanen und Geschäftsschädigungen zermürbt, begab sich Fichtmann schließlich im Frühjahr 1938 zu Oberbürgermeister Gmelch und ersuchte ihn, einen Räumungsverkauf durchführen zu dürfen, weil er beabsichtige, sein Geschäft aufzugeben. Die Verwaltung verweigerte jedoch die Genehmigung, da der Ausverkauf die „arischen" Konkurrenten schädigen könne.
Den Rosenheimer Nazis war jedoch damit die Möglichkeit klar geworden, durch einen weiteren, verschärften Boykott diesen von ihnen meistgehaßten jüdischen Geschäftsmann aus der Stadt zu vertreiben. „Moses Fichtmann ist ein charakterlich schmutziger, typischer Ostjude, dessen Gebahren bei allen anständigen Volksgenossen Ärgernis erregt. Sein und seiner Familie Verschwinden aus Deutschland muß soviel wie möglich begünstigt werden", gab Oberbürgermeister Gmelch am 14. Juni 1938 als Motto aus. Ohne Unterbrechung standen jetzt SA-Posten vor Fichtmanns Laden und versuchten, mit massiven Drohungen seine letzten Kunden zu vertreiben und den Inhaber damit zu ruinieren. Als Fichtmann darüber mit einem der Posten in einen heftigen Wortwechsel geriet, wurde er niedergeschlagen. Ein Fri-seurgeselle aus der Nachbarschaft kam ihm zu Hilfe, bis ihn sein Sohn ins Geschäft zurückbringen konnte. Diese Schlägerei nahm Gmelch am 1. Juli 1938 zum Anlaß, bei der Münchner Gestapo zu beantragen, Familie Fichtmann, deren Verhalten und Verbleib in Rosenheim „in einen öffentlichen Skandal" ausarte, umgehend aus dem Reichsgebiet zu entfernen. Darüber hinaus regte er an, die Söhne Eduard und Franz sollten, „wenn sie dem Ausweisungsbefehl innerhalb der kurz zu bemessenden Frist keine Folge leisten, sofort zum Vollzuge der Ausweisungshaft in Schutzhaft genommen und in das Konzentrationslager überstellt werden."
Um weitere Übergriffe auf Geschäft und Familie zu verhindern, war inzwischen Siegfried Fichtmann auf einen telegraphischen Hilferuf seines Vaters für einige Wochen aus New York zurückgekehrt, um als amerikanischer Staatsbürger gegebenenfalls sofort bei der Vertretung der USA Schutz zu fordern. Gegen „legale" behördliche Maßnahmen gegen die staatenlose Familie schützte aber auch seine Anwesenheit nicht. Auf eine erneute, dringende Intervention Gmelchs bei der Gestapo mit der Drohung, sollte nicht schleunigst gegen Moses Fichtmann und seine Angehörigen vorgegangen werden, sei „mit Tätlichkeiten zu rechnen", erteilte ihm die Münchner Zentrale am 21. Juli 1938 die gewünschte Zustimmung.
Bereits am folgenden Tag teilte der Oberbürgermeister die Ausbürgerung mit und begründete sie damit, Fichtmanns hätten, „obwohl sie nur Gäste im Reichsgebiet sind", ständig die Bevölkerung belästigt. Mit Hilfe des Amerikanischen Generalkonsulats legte Siegfried Fichtmann Beschwerde ein und bat, die Ausweisungsfrist wenigstens von einem auf sechs Monate zu verlängern, was aber auf Betreiben der Rosenheimer Behörden abgelehnt wurde. In aller Eile verkaufte Moses Fichtmann am 24. August 1938 sein Haus am Max-Josefs-Platz und verpflichtete sich gegenüber der Käuferin, seinen Laden binnen einer Woche zu räumen. Damit hatten die SA-Posten ihr Ziel erreicht. „Eine sehr fröhliche Trauernachricht" war ein Flugblatt betitelt, das zur Feier von Fichtmanns Geschäftsaufgabe ins Flötzinger Löchl einlud: „Wir von der judenfressenden Garde geben allen ,Freunden' des Davidsterns und Knoblauchgeruchs kund und zu wissen, daß nun Moses - Moriz Fichtmann auf eiligen Plattfüßen in ein gelobtes Land gezogen ist [...]. Wer uns kennt und weiß, wie viele Stunden wir für ,Krankenbesuche' opferten, kann uns die ehrliche Freude über diese Erlösung nachfühlen."
War auch die Geschäftsaufgabe damit in kürzester Zeit abgewickelt worden, so stieß die jüdische Familie bei ihrem Bemühen, zu den Söhnen in die USA auszuwandern, auf größte Schwierigkeiten. Wenig nutzte es ihnen, daß die Rosenheimer Behörde Reisepässe ausstellte und die Ausreise befürwortete. Lapidar hatte das Amerikanische Generalkonsulat in Stuttgart am 29. Juli 1938 auf eine Anfrage der Fichtmanns mitgeteilt: „Wenn zufriedenstellende Beweise über die Sicherstellung ihres Lebensunterhaltes in Amerika hier vorliegen, und wenn sie an der Reihe sind, wird ihnen eine Vorladung zur formellen Antragstellung zugeschickt werden. Die Vorladung wird ca. 4 Wochen vor dem Untersuchungstermin zugeschickt werden." Obwohl der Rosenheimer Oberbürgermeister die Münchner Behörden weiterhin drängte, Fichtmanns Söhne ins KZ einzuliefern, war damit an eine fristgerechte Ausreise nicht zu denken, zumal es den deutschen Behörden auch nicht möglich war, Staatenlose ohne weiteres in ein Nachbarland abzuschieben. Überdies wurde das Büro des Münchner Rechtsanwalts, der den Verkauf des Immobilienbesitzes abgewickelt hatte, im Zuge der Kristallnacht-Pogrome geschlossen, so daß wichtige Papiere zur Vermögensabwicklung nicht mehr greifbar waren. Als Eduard Fichtmann am 14. November 1938 nach München reiste, um die geschäftlichen Angelegenheiten zu klären, kehrte er nicht zurück. Erst später erfuhren die Eltern, daß er verhaftet und ins KZ Dachau überstellt worden war. Mit größtem Nachdruck versuchte nun die Familie, wenigstens für die beiden Söhne eine Einreisegenehmigung in die USA zu erhalten. Vor allem dem Bemühen Siegfried Fichtmanns von New York aus war es wohl zu danken, daß seine Brüder Eduard und Franz am 11. Mai bzw. 16. Juni 1939 nach England gelangten und nach monatelanger Wartezeit in einem Auffanglager bei London endlich am 6. März 1940 in New York einreisen durften. Damit war jedoch nur ein Teil der Familie in Sicherheit. Schier endlos zogen sich die Visaformalitäten für das Ehepaar Fichtmann und ihre Tochter Klara hin. Als im Dezember 1939 bei der Gesundheitsprüfung im amerikanischen Konsulat bei Moses Fichtmann ein Leistenbruch festgestellt wurde, verweigerten ihm die amerikanischen Behörden das erhoffte Permit und bestanden darauf, daß wegen des Gebrechens erst eine höhere Bürgschaft in den USA beschafft werden müsse. Inzwischen lebten Moses, Taube und Klara Fichtmann zurückgezogen in einer Ein-Zimmer-Wohnung in der Heilig-Geist-Straße, wo sie einem immer stärker werdenden Druck durch behördliche Willkür und Zwangsmaßnahmen ausgesetzt waren. Am 9. September 1939 hatte der Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, ein Ausgangsverbot für Juden ab 20 Uhr erlassen. Sogar zu Fahrten nach München ins amerikanische Konsulat oder zur Israelitischen Kultusgemeinde mußte Fichtmann jetzt ein Gesuch „um gütige Genehmigung" an den Oberbürgermeister stellen. Als das Postamt Rosenheim meldete, die Fichtmanns besäßen ein Radiogerät, ließ es das Stadtoberhaupt trotz rechtlicher Bedenken der Gestapo im August 1940 beschlagnahmen. Der Lebensunterhalt mußte von 350 RM bestritten werden, die monatlich von der Devisenstelle München überwiesen wurden. Über den Erlös seines unter dem Einheitswert verkauften Hauses konnte Fichtmann nicht mehr verfügen. Mit Hausdurchsuchungen überwachte die Polizei, ob er nicht unerlaubte Geldsummen und Waren in seiner Wohnung verberge oder einen verdächtigen Schriftverkehr pflege.
Da es dem Ehepaar Fichtmann und Tochter Klara bis Juli 1941 noch nicht gelungen war, das Land zu verlassen, erhielten sie den Befehl der Münchner Gauleitung, binnen weniger Tage nach München ins „Gemeinschaftshaus der jüdischen Kultusgemeinde" in Berg am Laim, dem ehemaligen Kloster der Barmherzigen Schwestern,2)überzusiedeln. Am 27. Juli 1941 meldete sich Moses Fichtmann mit seiner Familie aus der Stadt ab, in der er 45 Jahre gelebt hatte. Sechs Wochen später erlag er in München einem Herzinfarkt.
Taube und Klara Fichtmann wurden am 3. April 1942 zusammen mit 341 Juden aus dem Münchner Lager, 433 aus Schwaben und 213 Menschen, die am Vortag über die Sammelstelle Regensburg in die Landeshauptstadt gekommen waren, nach Piaski bei Lublin „evakuiert", einem Verteilungspunkt für die Vernichtungslager im Osten.3) Seither fehlt von ihnen jede Spur. Oberbürgermeister Gmelch wurde von der Hauptspruchkammer München 1949 als Mitläufer eingestuft.4)

Wolfgang Stäbler

Anmerkungen:

1) Daten und Vorgänge dieses Kapitels sind, wenn nicht anders vermerkt, dem Personalakt Moses Fichtmann, Stadt Rosenheim, Registratur, entnommen.
2) Vgl. BENZ, Wolfgang: Deportation und Ermordung. In: TREML, Manfred, KIERMEIER, Josef, BROCKHOFF, Evamaria (Hrsg.): Geschichte und Kultur der Juden in Bayern, Aufsätze. Veröffentlichungen zur Bayerischen Kultur und Geschichte 17, München 1988, S. 491 - 501, hier: S. 497.
3) Vgl. ebenda, S. 498 f.
4) Vgl. den Beitrag „Kommissarische Bürgermeister, erste Wahlen und Entnazifizierung".