Einführung

Zum ersten Male wird in Rosenheim von amtswegen eine Ausstellung zur Zeitgeschichte angeboten. Um des Vorteils eines größeren historischen Abstandes willen hat man sich für die weiter zurückliegenden 20er Jahre entschieden. Doch ist die Zeit, die die Großväter von heute als Kinder oder Heranwachsende selbst erlebt haben, nahe genug, um zumindest Geschichte als persönliche Erfahrung von Menschen vermitteln zu können. Zugleich stellen sich auch die Historiker der neueren Stadtgeschichte der Kritik der Zeitzeugen. Ein wenig Brisanz liegt in der Tatsache, daß auch das Handeln der Alten, sei es glücklich, irrend oder schuldig, im Spiegel der Geschichte sichtbar werden wird. In der Nähe zur Gegenwart liegt der Wert der Zeitgeschichte; die aktuellen Züge sind leichter erkennbar. Wie das Gestern ins Heute übergeht und das jetzige Leben von länger zurückreichenden Entscheidungen bestimmt wird, kann ohne Mühe sichtbar gemacht werden. Die geschichtliche Ausstellung bietet die Möglichkeit zum Vergleich. Man sieht die Verhältnisse von heute anders, wenn man die von damals studiert und erkannt hat. Aus der zeitgeschichtlichen Anschauung bildet sich gewiß eine bessere politische Urteilsfähigkeit. Die Zwanziger Jahre haben ihre politischen Eckdaten am 7. November 1918 und am 9. März 1933: Das eine Mal begann die Republik, das andere Mal war sie zu Ende. Auch in Rosenheim begann die Republik mit der Demonstration der Sozialisten auf der Loretowiese und endete mit dem Hissen der Hakenkreuzfahne auf dem Rathaus am 9. März 1933. Die Geschichte der Stadt ist in weiten Teilen auch das Ergebnis der bayerischen, der Reichs- und sogar der Weltgeschichte: Kriegsfolgen, Reparationszahlungen, Währungsverfall, Weltwirtschaftskrise sind Ergebnisse der „großen" Politik. Die Aufhebung der bayerischen Staatsangehörigkeit, das Verschwinden der bayerischen Briefmarken, die Einverleibung von Bahn und Post durch das Reich und nicht zuletzt die Auflösung der bayerischen Armee waren die äußerlichen und sichtbarsten Zeichen, an denen man auch in Rosenheim die Veränderungen abgelesen hat. Die Einführung des Acht-Stunden-Tages und der Arbeitslosenversicherung durch  Reichsgesetz leiteten Neuerungen im sozialen Leben ein.
Der schnelle Ausbau der Elektrifizierung war ein Symbol für die Wandlung der technischen Welt, das erste Kino inmitten der Stadt signalisierte den neuen Stellenwert von Zerstreuung und Unterhaltung im kulturellen Leben. Wenn im Programm des neu gegründeten Holztechnikums Seen und Berge, Wandern und Sport als Attraktion der Stadt hervorgehoben wurden, dann wird hier bereits das moderne Freizeitbewußtsein in voller Ausbildung sichtbar. Bei den Ausstellungsstücken handelt es sich in der Mehrzahl um Fotografien. Ihre hervorragende Qualität zeigt den hohen Stand dieser damals noch jungen Technik, aber auch die Popularität derer sich das Fotografieren erfreute. Die Art, wie das Material aufbewahrt wurde, ist auch ein Hinweis auf den vorbildlichen Willen zur geschichtlichen Dokumentation. Viele wichtige Dinge treten in der Ausstellung nicht in Erscheinung. Die Mitarbeiter waren von den vorhandenen Materialien abhängig. Die Weimarer Zeit war eine Epoche mit starken Extremen. Trotzdem könnte die Normalität der Mitte unterrepräsentiert erscheinen. Das jetzt Gebotene soll darum als ein erster Anfang verstanden werden.

Dr. Raimund Baumgärtner