Josef Wüst

Am 1. Juni 1889 trat Josef Wüst als Nachfolger des am 14. März verstorbenen Friedrich Stoll seinen Posten als erster rechtskundiger Bürgermeisters von Rosenheim an. Während des größten Teil seiner dreißigjährigen Amtszeit setzte sich der seit der Stadterhebung eingetretene Aufschwung Rosenheims fort, erst der Kriegsausbruch 1914 brachte hier wie Überall einen Einbruch. Während der Revolution abgesetzt, wurde Wüst durch die Verleihung des Ehrenbürgerrechts rehabilitiert. Am 26. Mai 1929 starb Hofrat Wüst; sein Grab auf dem Rosenheimer Friedhof liegt in der Rotunde des ehemaligen Leichenhauses.

Rosenheim war gerade fünfundzwanzig Jahre Stadt, als ihr Erster Bürgermeister, der 1865 gewählte Friedrich Stoll, im Frühjahr 1889 starb. Die beiden städtischen Kollegien, Magistrat und Kollegium der Gemeindebevollmächtigten, übertrugen am 29. April 1889 dem damaligen Bürgermeister der Stadt Lauf, Josef Wüst, die Nachfolge. Diese Wahl wurde am 16. Mai durch königliche Ministerialentschließung bestätigt und am 1. Juni wurde Wüst feierlich in sein Amt eingeführt.

Unter der Ägide des am 18. November 1860 in Forchheim geborenen Wüst setzte sich Rosenheims seit der Stadterhebung anhaltender Aufwärtstrend fort. Die Entwicklung einer Stadt läßt sich vordergründig an ihrer Einwohnerzahl ablesen. Während der dreißig Amtsjahre von Wüst steigerte sich diese um zweiundvierzig Prozent, von 10.090 im Jahre 1889 auf 17.562 im ersten Nachkriegsjahr 1919. Ein solcher Bevölkerungsanstieg muß aber, soll es sich weiterhin um ein gesund strukturiertes Gemeinwesen handeln, einhergehen mit einer Verbesserung der Lebensqualität. In Rosenheim war dies zumindest bis 1914, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der Fall. Dies läßt sich an der weiter modernisierten kommunalen Leistungsverwaltung (Ver- und Entsorgung) und an der verstärkten zentralörtlichen Funktion (Schulen, Behörden) für das Umland ablesen.

Noch unter Friedrich Stoll geplant, wurde am 2. Januar 1890 der Schlachthof eröffnet, im Mai 1890 wurde das Wasserwerk in Betrieb genommen. Dieses wurde bereits zehn Jahre später durch einen Neubau, der aus dem Hochdruckreservoir bei Waldering gespeist wurde, ersetzt. Im Oktober 1893 begann die Stadtverwaltung mit Planungen für ein Elektrizitätswerk, das nach dem Projekt von Oskar von Miller und Stadtbaurat Georg Mackert gebaut und Ende 1896 in Betrieb genommen wurde. Daneben wurden das Kanalisations- und Gasrohrnetz sowie die Straßenbeleuchtung laufend erweitert, die Anzahl der gepflasterten Straßen nahm zu, das 1875 an der Ellmaierstraße errichtete Krankenhaus wurde technisch auf die Höhe der Zeit gebracht. Weitere Anzeichen für die fortschreitende zentralörtliche Funktion der Stadt sind das am 1. Mai 1901 eröffnete Arbeits- und Wohnungsamt, das schon ein Jahr früher geschaffene Vermessungsamt und das am 1. Mai 1893 in Betrieb genommene Telefonnetz. Die beiden ersten öffentlichen Sprechstellen befanden sich damals am Bahnhof und in der Stadtpost, daneben gab es zunächst 32 private Anschlüsse.

Auch Rosenheims Ruf als Schulstadt wurde um die Jahrhundertwende begründet. Im Oktober 1890 wurde die von den Armen Schulschwestern geleitete Höhere Töchterschule eröffnet. Der von der Stadt dem Landtag seit 1883 immer wieder vorgelegte Antrag, die Lateinschule zum Humanistischen Vollgymnasium erweitern zu dürfen, wurde zum 1. September 1896 genehmigt, zweieinhalb Wochen später wurde der Lehrbetrieb aufgenommen. Die seit 1881 vierklassig geführte königliche Realschule (heute Finsterwalder-Gymnasium) wurde 1893 zur sechsklassigen Anstalt vervollständigt, 1904 schließlich kam in der Sedanstraße eine evangelische Schule dazu.

Im in seiner ersten Form 1895 errichteten Heimatmuseum wurde im Oktober 1900 die erste Sonderausstellung mit dem Thema „Familiengeschichte“ gezeigt, die über 1000 Besucher anzog. Das Stadtarchiv, die Stadtbibliothek und die Gründung des Historischen Vereins sowie die Max-Braun-Stiftung sind weitere kulturelle Marksteine kurz nach der Jahrhundertwende.

Daneben kam auch etwas Schwung in die bisher eher behäbige Kommunalpolitik. Nach dem Fall des Sozialistengesetzes entstand ein „Verein für Volkstümliche Wahlen“, die Keimzelle der Rosenheimer SPD, 1899 wurde ein Gewerkschaftsverein gegründet. Mit dem Demokratischen Volksverein (1896), der Freien Unabhängigen Bürgervereinigung (1902) und der SPD (seit 1908) traten bei den Gemeindewahlen allmählich Gruppen auf, die die bisherige Konsenspolitik von Katholischem Kasino und Liberalem Bürgerverein durch konkret thematisierte Wahlkämpfe belebten.

All diese Schritte hinein in eine moderne Gesellschaft wurden gestoppt durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der auch in Rosenheim schwerwiegende Folgen zeitigen sollte und in der Revolution 1918/19 endete, in deren Verlauf Josef Wüst am 22. Februar 1919 abgesetzt wurde. Wie Ludwig III. als Staatsoberhaupt, so kam auch dem Rosenheimer Stadtoberhaupt niemand zu Hilfe, als es daran ging, die Repräsentanten des alten Systems, das seine Verwurzelung in der Bevölkerung durch den Krieg eingebüßt hatte, zu stürzen.

Altbürgermeister Josef Wüst, der sich in den zwanziger Jahren als stiller Förderer karitativer Einrichtungen, die wegen der Kriegs- und Inflationsfolgen dringendst gebraucht wurden, besonders hervortat, wurde wegen seiner großen Verdienste um Rosenheim glänzend rehabilitiert: In der Sitzung vom 29. Oktober 1925 verlieh der Stadtrat Josef Wüst anläßlich seines 65. Geburtstags das Ehrenbürgerrecht. Nur dreieinhalb Jahre später starb Wüst in einer Münchner Privatklinik. Am 30. Mai 1929 gaben ihm viele tausend Rosenheimer auf dem städtischen Friedhof das letzte Geleit.

Walter Leicht (Oberbayerisches Volksblatt 1. Juni 1989)